Piraten, Vertrauen und „Protestwähler“

Gestern musste ich lesen, dass laut Umfragen des Meinungsforschungsinstituts Forsa 84 Prozent der Wähler der Piratenpartei als Protestwähler einzuschätzen seien. Diese Einschätzung erfolgte, weil die Befragten „das Vertrauen in die etablierten Parteien verloren“ hätten. Diese Kategorisierung halte ich für schwierig:

Erstens riecht „Protestwahl“ grundsätzlich nach einer Ausrede. Wenn eine nicht etablierte oder eine unerwünschte Partei eine relevante Anzahl an Stimmen bekommt, war das eben Protest – so muss man sich nicht mit den aufgeworfenen Fragestellungen auseinandersetzen. Ebenso wie man in früheren Jahren nicht zugeben musste, dass über fünf Prozent der Urnengänger mit rechtsradikalem Gedankengut sympathisieren.

Zweitens ist doch gerade Vertrauen das wichtigste Gut in der Politik. Es liegt nahe, immer diejenige Partei zu wählen, der man in den für sich relevanten Themen am meisten vertraut. Richtig gelesen: Vertraut! Ob man es einer Gruppierung auch zutraut, ist erst mal zweitrangig: Echt bemüht ist besser als halbherzig dann doch etwas anderes gemacht.

So vertraute man vor allem einer Partei, den Atomausstieg herbeizuführen. Man sieht im Nachhinein, dass die Umsetzung hätte besser sein können – sonst hätte es das Hin und Her im Laufe des letzten Jahres nicht gegeben – aber der Wille war da, das Ziel vor Augen. Und so haben wir selbst den neuen Ausstieg wohl im Kern vor allem denen zu verdanken, die schon den alten beschlossen haben. Der Wähler honoriert das entsprechend, die Grünen sind erfolgreicher denn je.

Und man hat einer anderen Partei mehr als jeder anderen vertraut, das Steuersystem vereinfachen zu wollen. Immer wieder wurde mit Dreistufentarifen und Entbürokratisierung geworben – wahrscheinlich hätten die Wähler aufgrund der Kassenlage sogar das „einfachere, gerechtere und gleich hohe Steuersystem“ akzeptiert. Umgesetzt wurde – zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung – nur eine „kompliziertere, ungerechtere und niedrigere Einzelsteuerregelung für Hotels“. Hier wurde Vertrauen vernichtet – und vielleicht am Ende eine ganze Partei.

Ergebnisse der Sonntagsfrage (Quelle: spiegel.de)

Man spürt also deutlich, wie wichtig Vertrauen in der Politik ist. Wenn man es jetzt an (noch) unbekannten Ufern sucht, ist das ein schlechtes Zeichen für die Etablierten, aber kein Protest. Wenn diese aber in der Lage sind, Vertrauen – dazu gehört auch die von den Piraten vorgelebte Transparenz – wiederherzustellen, wird sich das „Problem“ mit den Piraten ganz von allein lösen. Wahrscheinlich wird das den meisten Anhängern dieser Partei gar nicht so unrecht sein – schließlich bezeichnen sie sich als von Inhalten getriebene Nicht-Karrieristen. Auf der anderen Seite jedoch wird eine Erschütterung des Vertrauens in die Piraten deren Wähler vielleicht endgültig deren Vertrauen in unsere Demokratie als ganzes zerstören.

Der Untergang der Bürgertums?

Der 27. März 2011 war ein historischer Tag. Das sogenannte „Bürgerliche Lager“ musste in Baden-Württemberg zum ersten Mal seit Jahrzehnten eine echte Wahlniederlage einstecken. Ausgerechnet die Grünen, der von Schwarzgelb am schärfsten attackierte politische Gegner, fährt einen überwältigenden Sieg ein und wird künftig sogar den Ministerpräsidenten stellen.

Wird das Ländle jetzt sozialistisch, wie es unter anderem der CDU-Fraktionsvorsitzende Hauk an die Wand malte? Eher nicht. In Wahrheit scheint die Bevölkerung genau so konservativ geblieben zu sein, wie sie es schon seit mindestens 58 Jahren war. Auch wenn die Energiepolitik einen entscheidenden Einfluss auf diesen Wechsel hatte, reicht sie als Erklärung nicht aus: Schon vor dem Reaktorunglück in Fukushima konnten die Grünen in Umfragen Rekordwerte vorweisen. Vor allem viele frühere Nichtwähler haben aus deisem Grund ihr Kreuz bei den Grünen gemacht, doch bestand wohl kein Mobilisierungsproblem unter den (Ex-) CDU-Stammwählern. Die Wahrheit lautet: Die Grünen sind (zumindest in Baden-Württemberg) keine linke Partei mehr. Der künftige Ministerpräsident, der überzeugte Katholik Kretschmann, konnte viele Bürgerliche für sich mobilisieren. Vielleicht sind die Grünen sogar zur neuen „Mitte“ geworden. Diesen Titel hatten die Union bisher für sich beansprucht, zum Teil trotz populistischer Ausflüge, die man eher rechtsaußen eingeordnet hätte.

Bei Tageslicht betrachtet fällt weiter auf: Die Christdemokraten haben ihre Regierungsmehrheit vor allem durch das schlechte Abschneiden der FDP verloren. Fast wäre sie überhaupt nicht in den Landtag eingezogen. Auch die FDP hat an die Grünen verloren. Das überrascht wenig, verpassten es die Liberalen doch, an ihre Tradition als Bürgerrechtspartei anzuknüpfen. Seit Jahren steht der Wirtschaftsliberalismus im Vordergrund. Diese Vernachlässigung des einstigen Kernthemas hat sogar eine neue Partei auf den Plan gerufen, die seit einigen Jahren trotz geringstem Wahlkampfbudget und wenig politischer Erfahrung Wahl für Wahl Achtungserfolge einfahren kann: Die Piraten. (Sie sammelten z.B. im Südwesten Stimmen in der selben Größenordnung wie DieLinke.)

Und obwohl konservative Wähler den politischen Graben zwischen der CDU und Grünen übersprungen haben, und Schwarz-Grün laut Heiner Geißler (CDU) „politisch wie auch inhaltlich […] genauso möglich [sei] wie eine Koalition mit der FDP“, läuft alles auf Grün-Rot hinaus. Denn selbst die neuen, konservativen Grünen können nach der Laufzeitverlängerung und Stuttgart21 nicht mit der Union koalieren. Wenn man so will, wurde also die Wahl des Ministerpräsidenten schon im letzten Herbst entschieden, als sich die CDU ins koalitionspolitische Abseits spielte.

Atomsuppe selbst auslöffeln!

Heute Nacht war ich zu Gast bei der Nachttanzblockade Karlsruhe. Es war kalt und unbequem – aber es hat sich gelohnt. Die Atomkraftwerke bleiben zwar in Betrieb, doch allein die Erfahrung war es wert.

Erfahrungsbericht

Los ging es um 20:00 bei einem Partyzelt in Neureut. Einem der Karlsruher Stadtteile, die der Atommüll passieren würde. Die Stimmung unter den Demonstranten war locker. Es wurden Informationen ausgeteilt, wie man sich verhalten sollte. Und Kissen, um es sich später bequem zu machen. Als Neuling fühlte ich mich zunächst etwas unsicher, schließlich würden Teilnehmer der Demonstration heute Nacht bewusst gegen das Gesetz verstoßen. (Im Grunde steht die Blockade des Castors strafrechtlich auf einer Stufe mit Falschparken[1], aber es fühlt sich doch anders an.)

Als die Gruppe zu den Gleisen aufbrach, wurde schnell klar, dass die Polizei die Intention der Organisatoren richtig eingeschätzt hatte: In der Nähe des einzigen Stücks der Wegstrecke, auf dem neben dem Castor kein anderer Zug blockiert werden würde, waren bereits Scheinwerfer positioniert. Wir, eine Gruppe von etwa 700 Demonstranten, setzen uns in einen noch dunklen Bereich und machten es uns auf den Kissen gemütlich. Der Mond schien hell und die Gruppe sang. Zumeist über Atomkraft, aber auch „Pippi Langstrumpf“ wurde bemüht. Ein paar Anhänger der Linksjugend sangen die Internationale bis sie merkten, hier niemanden anstecken würden.

Mittlerweile war die Polizei am Gleisbett angelangt. Wir erzählten uns Witze und freuten uns besonders, wenn wir die Beamten des Nachts zum Schmunzeln bringen konnten. Sie waren sehr freundlich und nach den obligatorischen drei Platzverweisen trugen sie alle noch auf dem Gleis befindlichen Demonstranten behutsam in ein Gefangenenlager. Ich konnte es mir nicht verkneifen, einen der Beamten zu fragen, ob die Zahl der Demonstranten denn gewöhnlich sei. Die Antwort überraschte mich dann schon etwas: „Die Laufzeitverlängerung war eine dämliche Entscheidung.“

Als die Gleise frei waren, näherte sich der Transport durch das dicht bebaute Wohngebiet. Vorbei an Wohnhäusern, womöglich keine 50 Meter neben den Bettchen von schlafenden Kleinkindern. Der von mir gefragte Polizist bleib nicht der einzige, der sich kritisch gegenüber Atomkraft äußerte, nur hatten sie nun mal ihren Job zu erfüllen. Zu diesem gehörte leider auch, uns festzuhalten, bis der Castor die Stadt verlassen hatte. So konnten wir mit von der Demonstrationsleitung organisiertem warmem Tee unter Aludecken auf den Sonnenaufgang warten. Mit dem Tagesanbruch wurde das Lager aufgelöst. Wir waren müde und erschöpft, aber glücklich[2]. Insgesamt hatten wir dem Transport etwa drei Stunden abgenommen.

Motivation

Warum ich dort war? Atomkraftgegner bin ich seit langem, aktiv bin ich erst seit der Laufzeitverlängerung. Und da der Ausstieg schon ein Mal geglückt ist, kann es auch ein zweites Mal klappen. (Dieses Mal dann dank der Erfahrung Möglichkeit zum Wiedereinstieg.)

Mein Argument gegen Atomkraft ist vor allem ihr Preis. Zwar wird immer gern behauptet, der Strom sei „billig“ doch stimmt das maximal auf der Rechnung[3], nicht aber insgesamt. So kostet der Rückbau der Wiederaufbereitungsanlage in Karlsruhe nach momentanen Schätzungen 2,68 Milliarden Euro, von denen die Atomindustrie gerade mal 512 Millionen Euro zahlt. Dementsprechend wird die Atomkraft in diesem Beispiel zu 84%(!) aus Steuergeldern finanziert. Müsste die Atomindustrie ihre Kosten selber tragen, würde das auf diesen Fall reduziert einen 6,23 Mal höheren Strompreis bedeuten. (Die Kosten für die ebenfalls zum größten Teil aus Steuergeldern finanzierte und noch viel teurere Lagerung sind hier noch nicht mit einbezogen.) Der Preis für Atomkraft steht also nicht auf der Stromrechnung, sondern auf dem Steuerbescheid.

Das zweite Problem hängt eng mit dem ersten zusammen. Es ist die Monopolbildung. Atomkraftwerke lassen sich nicht nach Bedarf steuern, erzeugen also unabhängig von der Nachfrage Strom. Da eine Überproduktion das Netz instabil werden lässt, müssen also bei niedrigerem Bedarf die Betreiber anderer Kraftwerke zurückstecken. So kommt es, dass vier große Stromkonzerne in Deutschland die Preise faktisch nahezu diktieren können. Dass es auch ohne Atomkraft ginge, zeigen die Notabschaltungen (u.a. wegen mangelnder Kühlung) im vergangene Jahr. Obwohl zeitweise kaum Atomkraft im Energiepool vorhanden war, bleib der Strompreis (ebenso wie die Versorgungsleistung) stabil. Die Zwangsversorgung mit teurem Atomstrom aber verhindert, dass sich neue, günstigere Anbieter am Markt etablieren können, die womöglich in einen direkten Preiskampf übergehen könnten.

  1. [1]In beiden Fällen handelt es sich um Ordnungswidrigkeiten, nicht um Straftaten.
  2. [2]Besonders glücklich waren diejenigen, die ihren Ausweis vergessen hatten: Er war kein einziges Mal verlangt worden. Damit war alle Verunsicherung grundlos gewesen.
  3. [3]Wobei ich seit meinem Wechsel auf Ökostrom weniger für Stom bezahle, als zur Zeit, die mir EnBW Atomstrom ins Haus gepumpt hat. Und dann hat sich die EnBW auch noch erdreistet, aufgrund von Ökostromumlagen noch mehr Geld zu verlangen als den ohnehin schon überteuerten Preis.